Coronaesk auf dem Balkan

Zwischenbericht aus einer Forschungsreise in Zeiten der Krise

„Da kommt einmal nach Monaten ein Tourist vorbei und was will er: Einen Kaffee und Pfannkuchen. Nur einen Kaffee und Pfannkuchen! Das glaubt man doch nicht“, raunen sich die Kellnerinnen zu und schauen spöttisch zu mir herüber durch den verrauchten, dunklen Gastraum. Gegenüber sitze ich unter einem ausgestopften Bären und Geweihen und versuche mit meinen marginalen Sprachkenntnissen noch mehr Fetzen ihres Gesprächs aufzufangen.

Außer mir sind noch drei andere Tische besetzt. Draußen dreht sich gemächlich das Lamm über dem Feuer. Es ist die Spezialität der Region. Bereits zu Zeiten Jugoslawiens hielten die Reisenden hier in Scharen an und speisten das berühmte Lamm von Jablanica.

Jetzt gibt es keine Reisenden mehr.

Seit Corona ist Bosnien und Herzegowina, das seit etwa sechs Jahren einen enormen touristischen Aufschwung erlebt hat, quasi von der Europäischen Union abgeschnitten. Die Lokale in Sarajewo sind halb leer, in Mostar ist die UNESCO-gelistete Altstadt verwaist. Viele Läden machen gar nicht erst auf. Mein Gastgeber in Mostar hätte sonst um diese Zeit noch alle Zimmer belegt, gerade sind es zwei von 20. Im März sei es plötzlich so gewesen, wie 1992. Von einem Moment auf den anderen wären die Lokale leer gewesen und das sonst so quirlige Mostar sei zur Geisterstadt geworden. Das habe er seit dem Krieg nicht mehr gesehen.

Er ist nicht der Einzige, der mir seit meiner Ankunft diese unheimliche Parallele aufzeigt. Selbst im ohnehin sehr abgelegenen Sutjeska Nationalpark werden Erinnerungen an die Stille vor dem Bosnienkrieg wach. Als wir mit dem Jeep in Richtung Titos ehemaliger Villa am See Donje Barre fahren, erzählt mir der Ranger von den neuesten Nachrichten aus Bergkarabach. Die Explosionen, die dumpf von den Bergen hallen, habe er im Beitrag gehört. Genau, wie hier damals habe das geklungen, ein tiefes dunkles Grollen, das die Stille durchbricht: „Booom“.

Doch diese Erfahrungen machen die Kriegsgeneration hier irgendwie erhaben über die Situation: Man trägt zwar Masken und desinfiziert Hände und doch spottet man über Corona. Für eine Gesellschaft, die den Krieg noch in den Knochen spürt, scheint ein Virus wohl eher nebensächlich.

Dafür werden alte Konflikte aufgewärmt: Gerade in der Herzegowina besitzen viele Bosnier auch einen Kroatischen Pass. Sie können ohne Probleme in die Union reisen. Für alle anderen braucht es den teuren Abstrichtest oder 14 Tage Quarantäne. Da ist an Verreisen nicht mehr zu denken. Über diese Ungleichheit regen sich viele verständlicherweise auf. Dennoch hat das Virus eine ungeahnte Basis der Annäherung geschaffen: Weil die meisten anderen Reiseziele weggefallen sind, hätten diesen Sommer viele Serben Urlaub in der Föderation gemacht und Bosnier seien nach Serbien gefahren. Menschen, die seit Jahrzehnten einen Bogen umeinander machten, seien sich erneut begegnet, hätten Land und Leute schätzen gelernt. So schwärmen zumindest mein Gastgeber in Mostar und ein Touristguide in Sarajewo.

Dennoch hoffen alle, dass es bald ein Ende hat, dass die Touristen wiederkommen und das Leben wieder durchstartet. Und mittendrin bin ich: Auf Feldforschung zu einer Arbeit über Tourismus – ohne Touristen. Das hat Vor- und Nachteile. Zunächst falle ich auf. Wo ich gehe und stehe, wenn ich einen Laden betrete, Essen gehe, Interviewpartner*innen Anfrage… immer ist die Aufregung groß, man fragt mich aus über die Situation in Deutschland und begrüßt mich so herzlich, als hätte ich für die Anreise eine Wüste durchqueren müssen. Das übersteigt meist alle Stereotypen von südosteuropäischer Gastfreundschaft.

Forschungspraktische Auswirkungen: Offenheit, Offenheit, Offenheit

Für meine Arbeit hat das die Konsequenz, dass das teilnehmende Beobachten touristischer Praktiken fast unmöglich wird.

Aus der Corona-Situation ergibt sich jedoch der Vorteil, dass in der Tourismusbranche Tätige in der Regel viel Zeit haben. Zeit um mit mir zu sprechen, mir private Führungen zu geben und mir weitere wertvolle Kontakte vermitteln – ohne, dass ich das Gefühl habe, ihre Zeit zu stehlen (was sonst oftmals das Los der empirisch Forschenden ist). Außerdem komme ich mehr in Kontakt mit Einheimischen, als ich mir das im Vorfeld gedacht habe. Und für mein Thema lässt sich bereits eine wichtige Beobachtung anstellen: Die jugoslawischen Monumente, wenn sie auch halb verwaist erscheinen, werden wieder besucht – und zwar von Einheimischen als Form des Binnentourismus. Gerade viele Jüngere aus der Nachkriegsgeneration hätten in den letzten Monaten die Spomeniks aufgesucht. Ein Trend, der sich bereits vor Corona abzeichnete, wurde durch die Krise enorm verstärkt. Denn nun sei die Zeit gewesen, unbekannte Orte im eigenen Land zu bereisen. Und da standen viele Spomeniks hoch oben auf der Liste. Scrollt man durch die Beiträge auf Instagram, lässt sich dieser Anstieg in den letzten Monaten auch nachverfolgen. Der Forschungsaufenthalt ist also mit einigen Modifikationen verbunden. Dennoch bin ich dankbar, dass ich diese Reise angetreten habe. Zweimal habe ich sie verschoben, habe abgewogen, ob ich sie wirklich brauche… Nun sind 11 von 30 Tagen vergangen und viele Annahmen haben sich bereits bestätigt, manches wurde auch relativiert und durch neue Erkenntnisse ergänzt. Aber am Wichtigsten ist: Ich fühle mich schon jetzt sehr viel mehr in meinem Thema verortet, als zuvor.